Jazz in Deutschland (1945-2020)

Jazz in Deutschland (1945-2020)

Mit der Besetzung Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderten sich die Auftritts- und Arbeitsbedingungen der Jazzmusiker in Deutschland. Auf dem britischen Besatzungssender BFBS und vor allem dem US-amerikanischen Sender AFN war Jazz im Radio zu hören. Willis Conovers Voice of America Jazz Hour wurde zu einer der wichtigsten Sendungen für die Jazzhörer. Durch die Besatzungsmächte entstanden auch neue Auftrittsmöglichkeiten in Offiziersclubs und anderen Einrichtungen. Vor allem in der amerikanischen Besatzungszone war erstmals ein direkter Austausch mit US-amerikanischen Jazzmusikern möglich, die dort stationiert waren.

In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR entwickelte sich ein ambivalentes Verhältnis zum Jazz. Einerseits galt er als die Musik der unterdrückten afroamerikanischen Arbeiterklasse, andererseits auch zunehmend als die Musik des Klassenfeindes USA. Auch Jazzmusiker mussten entsprechend der »Anordnung über die Befugnis zur Ausübung von Unterhaltungs- und Tanzmusik« eine Prüfung ablegen. Offiziell als Instrument der Qualitätssicherung in der Unterhaltungsmusik deklariert, wurde diese Befugnis zunehmend ein Kontrollinstrument, da ohne diese sogenannte „Pappe“ keine Auftrittsmöglichkeiten bestanden. Da die meisten Jazzmusiker instrumentale Stücke spielten, waren sie jedoch gegenüber ihren Kollegen aus anderen musikalischen Bereichen im Vorteil, da es aufgrund des nicht vorhandenen Texts weniger Angriffsfläche für Kritik gab. Es war auch nicht unüblich, instrumentalen Stücken aus dem Repertoire US-amerikanischer Musiker einen deutschen Titel zu geben, um diese einfacher spielen zu können. Damit konnte auch eine Verordnung aus dem Jahr 1958 umgangen werden, die eine Quote von höchstens 40 % Westmusik forderte.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich vor allem der Free Jazz in der DDR zu einem kulturpolitischen Instrument, dass teils ambivalent betrachtet wurde: Der Komponist André Asriel beschreibt die Jazzfans 1966 in Analysen und Aspekte als „asoziale Snobs“. 1976 bezeichnet er sie dagegen“ als „Intellektuelle und Leute vom Fach“. Im Gegensatz zu westdeutschen Jazzmusikern, die in ihrem Repertoire – entsprechend der US-amerikanischen Vorbilder – Songs des Great American Songbooks interpretierten oder im Free Jazz eine „Antihaltung“ zur Gesellschaft ausdrückten, war der Free Jazz in der DDR auch auf der Suche nach eigenen musikalischen Wurzeln, auf die er aufbauen konnte. Da die deutsche Musik der jüngeren Vergangenheit stark durch die Nationalsozialisten vereinnahmt war, ging beispielsweise das Zentralquartett mit ihrem Projekt Aus Teutschen Landen, Suite nach Motiven deutscher Volkslieder weiter zurück in der Musikgeschichte und verarbeitete Material, das bis in das 16. Jahrhundert zurückgeht.

In den westlichen Besatzungszonen begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst eine kleine Blütezeit für den Jazz. Alle Musikveranstaltungen mussten zunächst von den Besatzungsmächten genehmigt werden und Jazz wurde meist als ideologisch unbedenklich eingestuft. In den 1950er Jahren entstanden zahlreiche Jazzclubs in Deutschland, die bis heute einen wichtigen Teil der Infrastruktur des Jazz bilden. Auch wenn der Jazz in der BRD kommerziell nie zu den erfolgreichsten Genres zählte, die GfK gibt den Anteil von Jazz am Gesamtumsatz 2018 mit 1,8 % an, ist sein Einfluss auf andere Musiksparten nicht zu unterschätzen, da bis zur Professionalisierung der Popmusikausbildung in Deutschland die meisten Musiker im Unterhaltungsmusikbereich eine mehr oder weniger starke Verbindung zum Jazz hatten und auch noch haben. Beispielsweise spielten in der Allstarband des 1. Deutschen Jazzfestivals Paul Kuhn, der auch als Schlagersänger erfolgreich war, und James Last, der mit seinem Tanzorchester berühmt wurde. Der Jazz-Saxophonist Klaus Doldinger war ebenfalls sehr erfolgreich als Filmmusikkomponist. Unter anderem schrieb er die Titelmelodie der erfolgreichsten Krimiserie Deutschlands, den Tatort. Der Schlagzeuger der Band war Udo Lindenberg, der seit Jahrzehnten als Rockmusiker Erfolge feiert.

Wolfram Knauer unterscheidet die Entwicklung des Jazz in Deutschland in die drei Phasen: Imitation, Assimilation und Innovation. Albert Mangelsdorff und Eberhard Weber stehen hierbei für den Übergang von der Assimilation zur Innovation. Da Jazz von den Schallplattenfirmen in Deutschland weitestgehend ignoriert wurde, vermittelte Horst Lippmann ihm und anderen deutschen Musikern einen Vertrag beim US-amerikanischen Major Label Columbia, was zu einer größeren Wahrnehmung des deutschen Jazz auf beiden Seiten des Atlantiks führte. Auf seinem Debutalbum Tension! präsentiert sich Mangelsdorff als Hardbop-Musiker nach US-amerikanischem Vorbild. Auf Anregung von Joachim Ernst Behrend, dem Leiter der SWF Jazzredaktion (1947-1987), vieler Jazzfestivals und Autor des Standardwerkes Das Jazzbuch, nahm er 1973 das Soloalbum Trombirds auf, auf dem er mit seinem mehrstimmigen „Multiphonics“-Spiel zu hören ist, das er für sich entdeckt hatte.

Eberhard Weber hatte ebenfalls begonnen, in Jazzbands zu spielen, die sich an US-amerikanischen Vorbildern orientierten. Nach einer kurzen Free Jazz-Phase wendete er sich wieder vermehrt melodiöserer Musik zu. 1974 erschien sein Debutalbum mit eigenen Kompositionen, die er mit einem Vierspurtonband im experimentellen Verfahren komponiert hatte. Dem Album wurde ebenfalls auf beiden Seiten des Atlantiks viel Beachtung entgegengebracht. Auch wenn es schon vor Mangelsdorff und Weber Musiker wie die Pianistin Jutta Hipp gab, die in den USA Fuß fassen konnten, war es die Generation der beiden erstgenannten, die nachhaltig auch musikalische Impulse von Europa aus in den Jazz einbrachten. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Impulse spielte das Label ECM. 1969 von Manfred Eicher gegründet, steht es für Alben mit einem eigenständigen Sound und einem Anspruch als Gesamtkunstwerk sowie für eine Musik, die die Grenzen des Jazz auslotet.

Die aktuelle Jazzlandschaft in Deutschland zeigt sich im Jahr 2020 vielschichtig und heterogen. Neben Autodidakten sind es vor allem gut ausgebildete Musiker, die oftmals – aus künstlerischen oder ökonomischen Gründen – in verschiedensten Projekten aktiv sind. Neben traditionellem Dixielandjazz und Interpretationen der Songs des Great American Songbooks gibt es vor allem Bands, bei denen die freie Improvisation, Free Jazz und die Auseinandersetzung mit anderen musikalischen Stilen im Vordergrund stehen. Michael Schriefl steht für eine Jazzmusikergeneration, die sich neben dem traditionellen Jazz und indischer Musik vor allem auch der eigenen musikalischen Tradition verpflichtet. Im Gegensatz zu vorangegangenen Generationen scheut er nicht die Verwendung volkstümlicher Elemente. Gerade im „Beethovenjahr“ gibt es zahlreiche Projekte, wie das der hr-Bigband, die klassische Musik mit zeitgenössischem Jazz verbinden. Diese Auseinandersetzung ist jedoch eine grundsätzlich andere als die von Gunther Schuller und Jacques Loussier in den 1960er Jahren, bei denen der Swing Rhythmus noch ein zentrales Element darstellte. Bei Jazzadaptionen klassischer Musik stehen 2020 meist die Interpretation und die Auseinandersetzung mit Motiven und Melodien im zeitgenössischen Kontext im Vordergrund. 

Junge Bands wie LBT aus München spielen auf traditionellen Jazzbühnen und in Clubs eine Musik, die als Technojazz bezeichnet werden kann. Die Band produziert ihre Musik mit Programmen wie Aebelton Live, ähnlich wie ihre Kollegen der elektronischen Musik. Sie transkribiert ihre Stücke anschließend und spielt sie mit akustischen Instrumenten, bei denen sie Spieltechniken der Neuen Musik anwendet, um einen elektronischen Sound zu erzeugen. LBT steht damit für eine Musikergeneration, für die im digitalen Zeitalter die musikalische Vielfalt verschiedener Kontinente und vergangener Epochen verfügbar ist. Sie bedient sich dieser Musikvielfalt, dekonstruiert sie und setzt sie neu zusammen.

Quellen:

Spotify Playlist:

 

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